Was wäre, wenn …? Diese Frage stellen sich Stadtplaner regelmäßig, wenn sie neue städtebauliche Projekte in Angriff nehmen oder für ein Genehmigungsverfahren bewerten sollen. Welche Auswirkungen könnte zum Beispiel der Bau einer großen Sport- und Konzerthalle auf die Wohnqualität in der Nachbarschaft haben? Wie hoch könnte das zusätzliche Verkehrsaufkommen ausfallen und was würde das für die Luftqualität und die Lärmbelastung der Anwohner bedeuten? Am besten wäre es dann, man könnte es einfach ausprobieren. Das geht – zumindest virtuell – mit dem digitalen Zwilling einer Stadt, wie ihn kürzlich zum Beispiel München vorgestellt hat.
09.02.2023
Digitale Zwillinge – was wäre wenn...?
Detailgenaue Nachbildung ist die Voraussetzung
Um einen digitalen Zwilling von einer Stadt zu erzeugen, wird diese möglichst detailgenau oftmals im virtuellen Raum nachgebildet. Dabei gilt: Je mehr Daten in das digitale Abbild fließen, desto besser und genauer werden die Simulationsmöglichkeiten, etwa für Änderungen, die sich durch eine Bebauung ergeben könnten. Grundlage für den digitalen Zwilling Münchens ist ein dreidimensionales digitales Stadtmodell. Quelle dafür sind zum Beispiel Luftbilder. Angereichert wird das virtuelle Modell mit Fachinformationen, etwa zur Bevölkerung oder zur Energieversorgung. Sogar Echtzeitdaten zum Wetter oder zu Luftschadstoffen aus Messstationen können in das Modell einfließen und so jederzeit für ein möglichst realistisches und aktuelles Abbild der Stadt sorgen.
Die Nutzungsmöglichkeiten einer solchen Stadt-Simulation sind vielfältig. An der Technischen Universität München etwa arbeiten Studenten daran, den digitalen Zwilling der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar zu machen. Dafür haben sie einen Rollstuhlsimulator entwickelt, mit dem sich mithilfe einer VR-Brille (von „Virtual Reality“, zu Deutsch: virtuelle Realität) bei einer Fahrt durch das virtuelle München die Perspektive von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen einnehmen lässt. Das könnte in Zukunft dazu beitragen, potenzielle Gefahrensituationen bei der Verkehrsplanung frühzeitig zu erkennen und durch eine angepasste Verkehrsführung zu entschärfen.
Mehr als nur städtische Zwillinge
Digitale Zwillinge gibt es aber nicht nur für Städte. In Industrieunternehmen beispielsweise werden sie unter anderem dazu verwendet, Produktionsprozesse zu optimieren. Dafür werden Änderungen in der Fertigung zuerst an einem virtuellen Abbild der Produktionsstraße getestet, bevor sie in die reale Arbeitsumgebung übernommen werden. Digitale Zwillinge helfen zudem dabei, Maschinen zu überwachen, in Echtzeit zu optimieren und unter Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz (KI) vorausschauend Produktionsprobleme zu erkennen. Dafür erfassen sie über Sensoren Echtzeitdaten zum Anlagenbetrieb und ergänzen diese mit historischen Daten, etwa zu früheren Produktionsausfällen.
In der Medizin wiederum könnte künftig das genetische Abbild eines Menschen genutzt werden, um Medikamente oder Therapien vorab zu testen. Damit ließen sich zum Beispiel Nebenwirkungen oder Fehlbehandlungen reduzieren. In einer Studie der Unternehmensberatung PwC fanden 72 Prozent der befragten Diabetes-Patienten die Idee, mithilfe ihrer genetischen Daten einen digitalen Zwilling von sich erstellen zu lassen, sinnvoll. Sie setzen vor allem darauf, dass sich durch Computersimulationen mögliche Folgeschäden ihrer Zuckerkrankheit früher erkennen und reduzieren lassen.
Die Welt als digitaler Zwilling
Mittlerweile zumindest nicht mehr ganz unwahrscheinlich ist auch die Möglichkeit, in Zukunft die gesamte Welt inklusive aller Menschen als digitalen Zwilling nachzubauen. Ansätze dafür gibt es schon seit 20 Jahren: 2003 startete zunächst unter dem Namen „Linden World“ (nach der Adresse des Gründungsunternehmens in der Linden Alley in San Francisco) und später dann „Second Life“ (zu Deutsch: „Zweites Leben“) eine 3D-Simulation der realen Welt, durch die jeder Mensch mit einem virtuellen Abbild seiner selbst, einem sogenannten Avatar, navigieren kann. Weiterentwickelt wurde der Gedanke jüngst von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. In seinem „Metaverse“ sollen real existierende physische und virtuelle Elemente noch enger verzahnt werden, als dies heute bei virtueller Realität („Virtual Reality“) oder erweiterter Realität („Augmented Reality“) bereits der Fall ist. Auch der Softwarekonzern Microsoft, der Videospieleproduzent Epic Games („Fortnite“) oder der Chip- und Grafikkartenhersteller Nvidia verfolgen Metaversum-Konzepte.